Von Freiheit, Beliebigkeit und Verantwortung
Wieso wir scheinbar abstrakte Themen im Alltag nicht außer Acht lassen sollten
Freiheit ist ein so großes Thema, dass es mich zu erschlagen droht, wenn ich mich auf die tiefgehende Reflexion einlasse. Es beginnt bei der Frage nach der Freiheit des Willens, geht über Menschenrechte, Hannah Arendt, freie Meinungsäußerung und hört noch lang nicht bei der aktuellen Bewegung Woman.Life.Freedom. auf. Viel zu groß also, um darüber zu schreiben. Oder?
Wohl eher viel zu wichtig, um gar nicht darüber zu schreiben. Es gibt mindestens drei Gründe, warum ich mich selbst ins Wagnis bringe und dieses Thema hier aufgreife:
Gerade so scheinbar “große” und abstrakte Themen wie Freiheit (und Verantwortung) finden vielmehr Eingang in unseren praktischen Alltag, als wir manchmal glauben, und sind deswegen konkreter Bestandteil unseres Lebens.
Wenn jeder vor öffentlichem Diskurs zurückscheut, wird weder das Bewusstsein für noch die aktive Auseinandersetzung mit diesen bedeutungsschweren Themen gefördert.
Ich thematisiere ein Thema wie Freiheit als Lernende, nicht als Wissende. Ich beschreibe einen Teil meiner Puzzlestücke, die zum Großen Ganzen beitragen — und bin neugierig, von anderen Puzzlestücken zu erfahren.
In den letzten Wochen und Monaten haben mich vor allem drei Thesen zum Thema Freiheit beschäftigt, insbesondere auch in der Arbeit mit meinen Klienten:
Der Mensch als freies, entscheidendes Wesen.
Durch meine Ausbildung und praktische Erfahrung der Logotherapie (=sinnzentrierte Psychotherapie) bin ich überzeugt, dass wir Menschen frei entscheiden können. Mir ist bewusst, dass sich an dieser Aussage eine große philosophische Debatte entfachen könnte (und das auch zu recht). Ich wäre dann eine derjenigen, die eine Haltung gegen Determinismus einnimmt.
Dieses Menschenbild ermöglicht nicht nur mir selbst, einer aktiven, bewussten und werteorientierten Lebensführung nachzugehen, sondern auch, meine Klienten auf ihrem selbstbestimmten Weg zu betreuen. Es ermöglicht uns, sich aus einer Opferhaltung zu lösen und in die Gestalterrolle zu kommen.
Ich bin deswegen überzeugt, dass wir freie (und damit entscheidende) Wesen sind, weil wir selbst dann eine Wahl haben, wenn die äußeren Umstände es nicht (mehr) zulassen: die Wahl, unsere Einstellung zu ändern; die Wahl, einen neuen Blickwinkel einzunehmen.
Ulrich Schnabel schreibt in seinem Buch Zuversicht dazu: "Zuversicht ist eine Haltung, die sagt: Was ich für richtig erkannt habe, das mache ich, auch wenn die Umstände widrig sind. Eine solche Haltung verschafft uns innere Freiheit und eine gewisse Unabhängigkeit von dem äußeren Erfolg."
Das bedeutet für mich nicht, dass die Freiheit zur Änderung meiner Haltung immer leicht wäre. Es bedeutet wohl aber, dass wir zu einem Perspektivwehsel in der Lage sind. Es bedeutet darüber vor allem, eine innere Freiheit erlangen, die uns von äußeren Zwängen freimacht.
Freiheit als gelebte Verantwortung, nicht als Beliebigkeit.
In Zeiten von Individualisierung und schier endlosen Möglichkeiten bedeutet Freiheit für mich nicht, “einfach irgendwas” zu machen, sondern die bewusste Wahl, das Leben — also auch meinen Alltag — sinnorientiert zu gestalten.
Erich Schechner bringt es wie folgt auf den Punkt: "Freiheitlich geführtes Leben bedeutet nicht Beliebigkeit aller Optionen, sondern verantwortlich den eigenen Freiraum auszufüllen: mit Sinn und Werten, so Viktor Frankl." (Lebe deine Möglichkeiten).
Mit der Freiheit, die wir Menschen haben, geht die Verantwortung einher, diesen Raum der Freiheit gut und menschenwürdig zu füllen. Es liegt ganz an uns, so oder so zu handeln.
"Und das Echo der Freiheit hallt noch weiter: Da, wo wir frei sind, können wir nicht "nicht verantwortlich" sein. In jedem winzigen Spalt der Freiheit sind wir gezwungenermaßen verantwortlich für das von uns Gewählte. Kein anderer nimmt uns diese Bürde ab", so Elisabeth Lukas in dem Buch Arbeit heute - Last oder Freude?.
Sehnsucht nach mehr “Freiheit zu” als “Freiheit von”.
Oft beobachte ich, dass Menschen frei sein wollen von etwas: frei von dem Arbeitsdruck im stressigen Job, frei von gesellschaftlichen Erwartungen, frei von der Pflicht, seine Steuererklärung zu machen. Ich kenne dieses Gefühl (und bin deswegen umso dankbarer, dass es Steuerberater gibt).
Dazu Wilhelm Schmid: "Freiheit, das ist die Idee des Freiseins von Gebundenheit, der Zustand eines Seins, das immer auch anders sein kann - ein Zustand voller Wahlmöglichkeiten, die bis zur Beliebigkeit gehen können. Dem steht Notwendigkeit gegenüber, also dasjenige, was per definitionem nicht auch anders sein kann - ein Zustand strikter Gebundenheit an ein Sosein, das keine Wahl erlaubt. Freiheit bestimmt sich zunächst negativ durch das Freiwerden von Notwendigkeit." (Philosophie der Lebenskunst)
Neugierig macht mich aber umso mehr die Frage, was anstelle der Gebundenheit kommt. Welches Anders-Sein folgt, wenn wir ganz frei sind von all den Zuständen? Ich spüre eine Sehnsucht nach noch mehr Freiheit zu etwas und frage mich:
Wozu wollen wir frei sein in unserem Leben? Und wie können wir diese Freiheit jeden Tag auf’s Neue leben?
💬 On words
"Kein Mensch ist eine Insel, daher ist auch kein Leben ohne Begegnung möglich und keine Begegnung ohne Freiheit, und keine Freiheit ohne Verantwortung." – Alexander Batthyány | Die Überwindung der Gleichgültigkeit
📆 Save-the-space – Meetup “Kintsugi & Ikigai
Die Freiheit, unser Leben bewusst zu führen, wird auch in der japanischen Lebensphilophie deutlich. Zudem kann uns die Metapher von Kintsugi darin unterstützen, Brüche im Leben als goldene Narben zu entdecken, die uns als Menschen von innen heraus strahlen lassen. Gemeinsam mit meinem guten Freund Motoki Tonn von Finde Zukunft laden wir zum Meetup in Hannover am 12.05.2023 um 09:30 ein. Weitere Details und Tickets gibt’s hier.
🧭 Zum Nachdenken und -spüren
In welcher Situation hast Du Dich zum letzten Mal ganz frei gefühlt? Was hat dieses Gefühl in Dir ausgelöst? Was nimmst Du aus dieser Erfahrung mit in Deinen Alltag?
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