Es ist doch verrückt: wir Menschen sehnen uns nach nichts mehr, als in unserer Einzigartigkeit gesehen zu werden — und doch scheint es, dass gerade diese Fähigkeit zur tiefen Resonanzerfahrung bei vielen verschüttet worden ist. Woher kommt das und was kann uns trotzdem Mut machen?
🔎 Aus der Theorie & Praxis
1. Wir Menschen haben zwei Grundbedürfnisse: Authentizität und Zugehörigkeit, wir streben also natürlicherweise nach Resonanzerfahrungen.
Basierend auf zahlreichen Studien zeigt der Arzt und Psychotherapeut Gabor Maté in seinem aktuellen Buch The Myth of Normal, dass wir uns ständig im Spannungsfeld dieser beiden evolutionär bedingten Bedürfnisse bewegen: authenticity auf der einen, attachment auf der anderen Seite. Müssten wir uns aber wirklich für eins entscheiden, würden wir die Zugehörigkeit wählen. Das ist evolutionär bedingt.
Diese Aussage wird durch Erkenntnisse aus der Genetik gestützt. So beschreibt der renommierte Neurowissenschaftler Joachim Bauer, dass wir Menschen bereits auf genetischer Ebene auf Kooperation ausgerichtet sind, nicht auf Wettbewerb. Als soziale Wesen sind wir somit davon abhängig, mit anderen in Resonanz zu gehen.
Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist demnach, wenn wir gar keine Aufmerksamkeit (Resonanz) von jemandem erhalten; nicht, wenn wir Resonanz wie Wut oder Ärger erhalten.
💬 Dazu Bauer in Das empathische Gen: “Mindestens ebenso toxisch ist erlebte Diskriminierung. Von Mitmenschen absichtsvoll nicht wahrgenommen, nicht beteiligt und in die zwischen ihnen laufende Kommunikation nicht einbezogen zu werden, ist eine Qual.“
2. Wirkliche Resonanz kann nur in Echtzeit entstehen, am besten wenn wir auch non-verbale Signale wie Körpersprache oder Tonalität der Stimme wahrnehmen können.
Wie wichtig Resonanzerfahrungen aufgrund von non-verbalen Signalen sind, beschreibt Max Strom in seiner Arbeit “Breathe to Heal”, unter anderem zum Thema Trauer und Verlust. Seine Empfehlung für Krisenfälle: wenn wir mitkriegen, dass jemand Nahestehendes einen Schicksalsschlag erlebt, sollten wir idealerweise innerhalb von 24h bei ihm sein — in Person, in voller Präsenz. Es geht darum, den anderen ganz zu sehen, im direkten und im übertragenden Sinn.
💬 “Die unmittelbarste physische Form des bewussten In-Beziehung-Tretens mit einem Menschen, einem Tier oder auch einer Sache, zum Beispiel einer Landschaft, besteht in der Aufnahme des Blickkontaktes beziehungsweise darin, sie in den Blick zu nehmen.” — Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung.
Sollte die persönliche Präsenz im Krisenfall nicht möglich sein, empfiehlt Strom, einen Videoanruf zu tätigen, weil darüber zumindest der Großteil an non-verbalen Signalen übermittelt werden kann. Ist auch das nicht möglich, sollten wir die Person per Telefon anrufen, sodass unsere Präsenz auch über die Stimme vermittelt wird und wir darüber in Resnonanz gehen können. Erst wenn auch das nicht möglich ist, sollten wir eine geschriebene Nachricht (SMS, e-Mail, etc.) schicken, da diese weder non-verbale Signale beinhaltet noch in Echtzeit stattfindet.
3. Vor allem (aber nicht nur) durch soziale Medien haben wir verlernt, die Präsenz eines anderen zu er-tragen.
Ich kenne nicht wenige Leute, die sofort Handlungs- und Lösungsoptionen anbieten, wenn ihnen jemand von einem Problem erzählt. Dabei geht es den meisten von uns in einer schwierigen Situation zunächst darum, gehört zu werden (und nicht darum, die — vermeintlich — perfekte Lösung präsentiert zu kriegen). Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als dass uns jemand zuhört, Empathie zeigt. In unseren Breitengraden finden es viele Menschen jedoch unangenehm, eine andere Person weinen zu sehen oder gar schweigend zu erleben. Ich finde das nicht überraschend.
So wertvoll digitale Medien im Allgemeinen und soziale Medien im Speziellen auch sein können, so wenig sind sie gekennzeichnet durch tiefgehende Resonanzerfahrungen, allen voran eine synchrone Kommunikation und das Erleben non-verbaler Signale. Gleiches gilt für die übermäßige Arbeit an Bildschirmen und in physischer Distanz, die viele von uns nur zu gut kennen.
Wenn wir dann in der direkten Begegnung mit anderen mit Trauer, Enttäuschung oder gar Stille konfrontiert werden, ist das für viele ungewohnt. Für manche ist es gar kaum zu ertragen. Dabei ist gerade Weinen ein ganz natürlicher Prozess, der uns ermöglicht, starke Gefühle zu regulieren — und sie eben nicht zu unterdrücken. Wenn wir weinen, können wir schlimme Ereignisse auch auf physischer Ebene besser durchleben. Weinen löst etwas in uns, ist oftmals heilsam (auch auf psychischer Ebene). Und niemand weint für immer.
4. Man vs. Machine — Wenn Mensch gewinnt
Nun könnte man argumentieren, dass soziale Medien oder gar Künstliche Intelligenz aber einen realistischen Eindruck von Empathie und Präsenz vermitteln können, den wir aufgrund unseres Bedürfnisses nach Zugehörigkeit schätzen und als authentisch empfinden. Und tatsächlich konnte genau das in einem umstrittenen Experiment des Psychologen und Co-Founder der Mental Health Plattform Koko Rob Morris gezeigt werden: über 30.000 Hilfegesuche auf der Plattform wurden mit einer von ChatGPT generierten Nachricht beantwortet, die im Gegensatz zu von freiwilligen Helfern geschriebenen als signifikant positiver wahrgenommen wurden. Zudem wurden sie jeweils in der Hälfte der Zeit verschickt.
Doch das Ganze funktionierte nur bis zu dem Zeitpunkt, als die Hilfesuchenden erfuhren, dass die empathischen Antworten künstlich (und eben nicht von echten Menschen) erzeugt wurden. Selbst wenn also die Faktenlage, das künstlich erzeugte Wissen, zunächst überzeugte, ging es am Ende eben doch darum, als Mensch von einem Menschen gesehen zu werden.
Ist es also das, was uns von Maschinen unterscheidet? Kann uns die inhärente, wenn auch manchmal verschüttete Fähigkeit zur echten Resonanz dann nicht zuversichtlich stimmen?
Ein Aufruf.
In Anbetracht all dieser Zusammenhänge erstaunt es mich nicht, dass derzeit an allen Ecken Programme zur Einübung von Empathie und Resonanzerfahrungen angeboten werden: vom Achtsamen Dialog bis hin zur wissenschaftlich fundierten Dyade ist alles dabei. Sie mögen sich in Details unterscheiden, doch die Kerninhalte sind ähnlich.
Es geht immer wieder darum, einen Raum so zu kreieren, dass…
sich zwei echte Menschen begegnen;
sie sich einander bewusst wahrnehmen und in Resonanz gehen;
mindestens einer von beiden sich zu einem Thema oder einer Fragestellung mitteilen kann (und zwar ohne unterbrochen zu werden);
Wertschätzung (non-)verbal zum Ausdruck gebracht wird.
Dabei kann ein standardisiertes Training und systematische Übung helfen, jedoch müssen wir nicht auf weiteren Input warten.
Lasst uns jetzt starten! Wir können gleich loslegen und beginnen, dem Kollegen in der Mittagspause bewusst zuzuhören. Wir können uns darin üben, die gute Freundin ganz zu sehen, dazu gehört auch ihre Mimik und ihre Körperhaltung. Wir dürfen uns trauen, ganz präsent für und mit jemanden zu sein, eben in Resonanz zu gehen — mit seinem Weinen und auch mit seiner Stille, ebenso wie mit seiner Freude.
🧭 Zum Nachdenken und -spüren
Wann und in welcher Form hast Du zum letzten Mal Resonanz erfahren? Wie hast Du Dich dabei gefühlt? Und in welcher Situation hast Du jemandem aufmerksam zugehört? Wie hat sich das für Dich angefühlt?
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Dear Nina, you asked for it ;-)
Zu 1. die SDT (Self-determination theory, Ryan/Deci) geht von drei Grundbedürfnissen aus. Neben Autonomie, was auch etwas anderes ist als Authentizität, und Zugehörigkeit, wird auf das Bedürfnis nach Kontrolle verwiesen.
Zu 2. Wir können auch jenseits von Raum und Zeit in Resonanz gehen. Hierbei wird unsere kinästhetische Wahrnehmung angesprochen, der Körper reagiert als Einheit mit einer ganzheitlich veränderten Befindlichkeit. Beispiel: in Familienunternehmen kommt es durchaus vor, dass bereits Verstorbene im System noch Wirkungen erzeugen.
zu 3. YES, 100% -> Reflexionsraum-Erweiterung, siehe hierzu auch unbedingt: Stelter, R. (2016), Third Generation Coaching, Einladung zum nachhaltigen Dialog, erschienen in Wegener, R., Deplazes, S., Hasenbein, M., Künzli, H., Ryter, A. & Uebelhart, B. (2016b). Coaching als individuelle Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen. Springer-Verlag.
zu 4. "Die Inhalte, die von KI erzeugt werden, machen mir weniger Sorgen, als die Vorstellungen, die wir Menschen aus unseren eigenen Gedanken wahr werden lassen können."
Zum Aufruf möchte ich immer wieder auf eine großartige Initiative von #virtualsupporttalks verweisen"Redezeit für Dich" https://www.virtualsupporttalks.de
Ganz lieben Dank Nina, für die wundervollen Anregungen!